Mídia Ninja: WM 2014 und Brasilien in echt

Anfang Juni begann die Fußball-WM. Im Jahr zuvor begannen auch die Proteste in Brasiliens Städten; u.a. gegen die hohen Ausgaben für dieses Turnier. Zwei parallele Phänomene, die nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit bedacht wurden. Dem entgegenzuwirken, haben sich die Mídia Ninja verschrieben: gelebter Journalismus ohne den Einfluss von Massenmedien, der die Proteste und den Glauben daran am Leben hält. Junge Brasilianer nehmen ihn mit auf die Strasse und wieder zurück – denn so bietet der citizen journalism richtig gute Chancen. 

Das Eröffnungsspiel der WM 2014. Während der brasilianische Kapitän Thiago Silva beim Klang der Nationalhymne feuchte Augen vor Ehrfurcht und Rührung bekam, hatten Demonstranten diese nur wenige Stunden zuvor wegen des Tränengases gehabt, mit dem sie vor den Toren des Stadions von der Polizei beschossen wurden. Als Marcelo das erste Eigentor der brasilianischen WM-Geschichte schießt, herrscht kurz Schockstarre unter den Fans, während einige der Demonstranten in Jubel ausbrechen. „Brasilien könnte wirklich verlieren? Welch ein Symbol!“, beschreibt die taz diesen Moment. 

Brasilien und Fußball – auf den ersten Blick passt das. Lange galt der brasilianische Fußball als das Maß aller Dinge, wenn es um Technik und Eleganz ging. Der viermalige Weltmeister hat in diesem Jahr die große Chance auf den fünften Titel – im eigenen Land. Doch nicht alle freuen sich uneingeschränkt auf dieses Riesenspektakel, das die FIFA alle vier Jahre veranstaltet. Denn Brasilien kämpft längst mit sozialen Problemen, die auch der geliebte Fußball nicht zu übertünchen vermag. Auch wenn die Regelungen der FIFA das vorzugeben versuchen.

17J - 3º "Copa sem povo, tô na rua de novo" | 17/06/2014 | Mídia Ninja
Foto: (c) Mídia NINJA. Creative Commons License.

Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen

Dass eine Fußball-WM nicht nur Konfetti und jubelnde Massen bedeutet, wissen wir in Deutschland spätestens seit 2006. Plötzlich waren sich die Menschen bewusst, dass die FIFA und ihre Sponsoren ihre eigenen Regeln gleich mitgebracht haben. Etwa jene, nach der innerhalb einer genau bemessenen Bannmeile rund um einen Spielort der WM nur bestimmte Produkte der Sponsoren verkauft werden dürfen. Oder etwas weniger spektakulär, dass die Stadien gewisse Kriterien erfüllen müssen, die hier und da durch Ausbesserungen schließlich auch erreicht wurden. In Deutschland war das mehr oder weniger machbar.

In Brasilien natürlich auch. Nur war dort den Menschen etwas deutlicher bewusst, dass die vielen Gelder in Milliardenhöhe, die etwa durch etliche Umbauten an Stadien verschlungen wurden, auch ganz gut für Bildung gebraucht worden wären. Oder für Wohnungsbau, soziale Einrichtungen, städtische Infrastrukturen. Schließlich entzündete sich die Proteste an einer Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr. Als diese im März 2013 vollzogen wurde, bildete sich in Porto Alegre eine „Erste Spontandemonstration von Jugendlichen und Studenten in der Nähe des Universitätsgeländes, wo sie für drei Stunden eine der zentralen Straßen blockieren“, wie die „Kooperation Brasilien (KoBra)“ auf ihrer Website berichtet. Nachdem vor allem eben jene Jugendlichen und Studenten tagelang und zu Hunderten in verschiedenen Städten demonstriert hatten, nimmt die Präfektur von Port Alegre die Erhöhung im April wieder zurück – was vor allem als ein Erfolg der Proteste verstanden wird und fortan als Vorbild für Proteste gegen weitere Fahrpreiserhöhungen im ganzen Land dient.

Städte wie Rio de Janeiro oder São Paolo zogen mit Fahrpreiserhöhungen nach, Jugendliche, Studenten und Aktivisten mit Protesten. Aus Hunderten wurden Tausende, erste Reifen wurden in Brand gesteckt, erste Einsätze der Militärpolizei erfolgten. Im Juni 2013, bei der vierten Demonstration in São Paolo, kam es während der sechsstündigen Proteste in der Innenstadt zu Zusammenstößen und Verletzten auf beiden Seiten, als die Polizei den Demonstrationszug blockierte. Der Bürgermeister São Paulos und der Gouverneur des Bundesstaates kritisierten die Demonstrationen daraufhin scharf – zogen sich damit noch größeren Unmut der Demonstranten zu. „Die Straßen-Proteste, das Vorgehen der Polizeikräfte sowie die Stellungnahme von Bürgermeister und Gouverneur verbreiten sich in Windeseile in den sozialen Netzwerken“, berichtet KoBra weiter.

Donnerstag, 13. Juni 2013: Die Tageszeitung Folha de S. Paulo fordert in einem Editorial ein sofortiges Ende der Proteste und charakterisiert diese als gewalttätig und Taten von „Vandalen“ und „Krawallchaoten“ („baderneiros“). Das Editorial fordert das harte Durchgreifen der Polizeikräfte.Kooperation Brasilien (KoBra)

Im Folgenden fordert die Tageszeitung Folha de S. Paolo zunächst „ein sofortiges Ende der Proteste und charakterisiert diese als gewalttätig und Taten von ‘Vandalen‘ und ‘Krawallchaoten‘ (‘baderneiros‘)“, so KoBra weiter. Die Tageszeiten forderte zudem ein hartes Durchgreifen der Polizeikräfte. Die setzt das am nächsten Tag mit Tränengas und Gummigeschossen auch um. Dabei werden auch mehrere Journalisten verletzt, u.a. eine Mitarbeiterin der Folha de S. Paolo, die in der Tageszeitung zitiert wird: „Der Polizist zielte auf mich und drückte ab.“ Die brasilianische Medienlandschaft bezeichnet das Anliegen der Protestierenden zwar nun immer mal wieder als legitim. Die Skepsis in der Bevölkerung der Politik und den Medien gegenüber bleibt dennoch bestehen. Wiederum einen Tag später findet in der Hauptstadt Brasilia das Eröffnungsspiel des Confederation-Cups statt, dem Testballon der FIFA, der im Vorfeld einer WM im Gastgeberland ausgetragen wird. Auch hier gibt es Proteste, Verhaftungen und Verletzte. Und Pfiffe gegen Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff und FIFA-Boss Sepp Blatter.

Nah, ungefärbt und authentisch

Das eh schon angeschlagene Vertrauen in die Regierung war vollends geschwunden, die FIFA selbst hat auch nicht den besten Ruf, wenn es um den Umgang mit Geldern oder Kritikern geht. Die Stimmung war jetzt richtig angeheizt. Größere Proteste gegen die FIFA und das Turnier bildete sich nicht nur auf den Strassen, sondern auch in der politischen Opposition. Romário, der brasilianische Stürmerstar, der 1994 Weltfußballer und Weltmeister war, sitzt mittlerweile in der Abgeordnetenkammer des brasilianischen Nationalkongresses und spricht wiederholt von einem „Staat im Staate“, den die FIFA in Brasilien errichte. „Die FIFA kommt hierhin, ist von allen Steuern befreit, setzt sich über unsere Verfassung hinweg und verlässt das Land mit den Taschen voller Geld.“

Screenshot Mídia Ninja Tweets
Mídia Ninja berichten von präventiven Verhaftungen vor dem WM-Finale.

Für die noch jungen Mídia Ninja, dem Netzwerk aus jungen Berichterstattern, die auf die Strassen und in die Proteste gehen, um von dort frei und unabhängig zu berichten, bedeutete diese gesamte Entwicklung den Durchbruch. Zunächst drehen sie nur Videos und schießen Fotos, später kommen live-Streams der Demonstrationen hinzu. Mehr und mehr gehören auch Textformen zum Repertoire der Ninja. Bewaffnet mit Handys, Kameras, Ersatzakkus und Kabeln dokumentieren sie so die Proteste, die mal friedlich bleiben, mal in Zusammenstößen mit der Militärpolizei münden. Aber immer aus Sicht der Beteiligten, nah, ungefärbt und authentisch. Das stößt auf eine breite Zustimmung, „die sich auch dadurch speist, dass die jungen Leute in Brasilien denken, ‘die berichten so, wie wir die Proteste selbst erlebt haben, nicht wie wir es im Fernsehen sehen'“, wie DLF-Redakteur Jörg-Christian Schillmöller in einem Radiobeitrag anmerkt. Es bedeutet aber auch, dass Mídia Ninja vermehrt ins Visier der Polizei geraten und auch mal schnell verhaftet werden: Felipe Peçanha etwa, der sich kritisch über Repressionen durch die Polizei und die Kriminalisierung der Proteste äußerte. Bei einer Demonstration einen Tag später wurde dessen Ersatzakku kurzerhand zum Sprengsatz erklärt. „Absurd“, nennt Peçanha den Vorfall, der nur einer von vielen sei, um die Menschen von der Strasse fern zu halten.

Hier geht es zum „(Kurz-)Interview: Felipe Altenfelder – Mídia Ninja“

„Die Berichterstattung der traditionellen Medien kriminalisierte die sozialen Bewegungen“

Die Wurzeln der Bewegung liegen in der Fora do Eixo (FdE), einem Netzwerk aus mehreren kulturpolitischen Basisorganisationen, die über ganz Brasilien verteilt sind. Ein Kulturkollektiv, das Ende 2001 entstand und sich heute über ganz Südamerika erstreckt. Hauptsächlich ging es dabei um den Austausch von Musikern und Acts und um das Bündeln von Kompetenzen in der Event-Produktion. Unabhängig vom Mainstream und den großen Musikproduktionen sollte der Underground gefördert werden. Schnell erweiterte sich der Fokus auf weitere kulturelle Ausdrucksformen wie Theater und bildende Künste.

Our work is where the fight for social justice, cultural, political, economic and environmental change takes place.Mídia Ninja

Als das Kollektiv 2013 spürte, dass sich etwas Großes im Land regt, wurde diese Initiative von der Kultur auf die Kommunikation übertragen. „Ich glaube, es ist wichtig zu verstehen, dass wir schon lange vor 2013 auf die Strassen gegangen sind. Was letztes Jahr passiert ist, sehe ich eher als ein Resultat eines größeren Prozesses, dessen Teil wir und andere Bewegungen auf verschiedenen Ebenen sind“, sagt Felipe Altenfelder, Mídia Ninja und Gründer der FdE (hier geht’s zum Kurzinterview). Dass die Massenmedien nicht gerade die Interessen der Bürger vertreten, sei ein Bewusstsein, dass schon lange in Brasilien bestehe. „Als das Land dann begann, diesen intensiven politischen Prozess mit hunderttausenden Menschen auf den Strassen zu bringen, waren unsere Inhalte etwas, das uns in großem Maße das Vertrauen der Menschen einbrachte. Denn die Berichterstattung der traditionellen Medien kriminalisierte die sozialen Bewegungen.“

17J - 3º "Copa sem povo, tô na rua de novo" | 17/06/2014
Foto: (c) Mídia NINJA. Creative Commons License.

Heute stehen die Mídia Ninja für einen neuen, modernen und jungen brasilianischen Journalismus von Bürgern für Bürger. Citizen journalism, der endlich wieder kritisch genug ist, um etwas zu bewirken. Und dass sei so neu, bemerkt Felipe Altenfelder, „dass Regierung, Polizei und Medien überrascht und in vielen Punkten gezwungen sind, sich neu zu erfinden, um den Bezug zur Gesellschaft in den modernen Zeiten, in denen wir leben, aufrecht erhalten zu können.“

Das Halbfinale. Brasilien verliert tatsächlich. Und wie. Die Menschen des Gastgeberlandes sind ernüchtert, hatten sie doch so viel Hoffnung in ihre junge Mannschaft gesetzt. Und jetzt ist die Realität schneller zurück als erwartet. Aber dieses Turnier, diese 1:7 Niederlage gegen den späteren Weltmeister Deutschland hat vor allem aufgezeigt, das etwas geschehen und vor allem viel hinterfragt werden muss. Schon wenige Tage nach der historischen Pleite gegen Deutschland sehen viele Brasilianer darin eine Chance. Die Proteste fanden auch während der Weltmeisterschaft statt, wenn auch in viel kleinerem Rahmen. Doch viele junge Menschen fühlen sich durch den citizen journalism dieses Kollektivs Mídia Ninja inspiriert. „Sicherlich stellt unsere Arbeit und ihre Sichtbarkeit eine Art Aufschrei dar, dass es möglich ist, relevante und freie Medienarbeit in Brasilien zu betreiben“, sagt Felipe Altenfelder. Denn die Massenmedien seien heute „hinterfragt wie nie, und eine neue Generation von aktivistischem Bürger-Journalismus wächst gerade erst heran.“ Eine große Chance. Auch wenn es schwer wird.

Felipe Altenfelder sprach dieses Jahr übrigens auf der re:publica. Ein Video des Vortrags Defending human rights worldwide – learning from the best – what’s working & why gibt es hier. Die Mídia Ninja posten im Social Web hin und wieder auch auf Englisch; die Bildberichterstattung ist auch ohne Sprachkenntnisse gewaltig: Facebook, Twitter, flickr
Christian machte 15 Jahre lang Musik, nahm Platten auf und tourte durch Europa. Zwischendurch studierte er und nahm die ersten Texterjobs an. Jetzt ist er freier Texter, Autor und Redakteur für Kommunikationsagenturen und Verlage, für Zeitschriften und Magazine, für die öffentliche Hand und Direktkunden, online und offline. Er mag Rhythmus und Prägnanz, Melodie und Relevanz. In Headline, Copy oder Redaktion, im Storytelling und relevantem Content. textass hold 'em.

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